Prof. Andreas Herrmann

Vocal Productions


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Nun zur Phase II:
Erlernen

als Beispiel bleiben wir bei der Missa solemnis von Ludwig van Beethoven.
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PHASE 2 - ERLERNEN

Bei kürzeren Motetten besteht die Phase 2 z.B.lediglich aus einem Klavierdurchgang des Werkes.
Bei einem längeren Werk, wie der "Missa solemnis", ist die Definition der Phase 2 nicht ganz so einfach, man muss weiter fassen:

zum Arbeitsziel in Phase 2

Hier geht es um eine erste Erarbeitung des Gesamtwerkes in größtmöglichem Tempo (Probenfluss) und im geringst möglichen Perfektionsgrad.
Das Arbeitsziel ist noch nicht die Bewältigung des Werkes, sondern zunächst nur die Basis für die spätere Perfektionierung (Phase III) und Profilierung (Phase III und IV).


Erfolgsgrenze von Phase 2: Verzicht auf Perfektion
— im rhythmischen und harmonischen Zusammensingen
— in der Wiederholungssicherheit
— im Treffen der Charaktere
— in der Abstufung der dynamischen Verhältnisse

Missverständnisse werden ausgeräumt, Undeutlichkeiten werden belassen, aber durch Anmerkung gekennzeichnet:
Ein „Missverständnis“ ist z.B. eine klare Quinte statt einer Quarte, Dur statt Moll o.ä., also eine unter Umständen sogar denkbare Variante.
Zu den „Undeutlichkeiten“ kann man auch die Irrtümer einzelner Chorsänger gegenüber der richtig singenden Gruppe rechnen (Blick oder Wink!).

Manche Chorleiter fürchten, daß unverbessert gebliebene Schwächen sich einschleifen und im Augenblick der Aufführung wieder auftreten. Diese Erfahrung stammt vor allem aus dem instrumentalen Üben. Auf vielen Instrumenten gibt es keine „Unklarheiten“, sondern nur ,,richtige“ oder „falsche“ Griffe. Die falschen fallen stärker auf und prägen sich daher ungewollt ein. Eben aus diesem Grund ist ein eindeutig falscher Schritt sofort zu beseitigen. Undeutliches, Ungenaues dagegen wurde sich nur bei langdauerndem Üben ohne Korrektur festsetzen können (also nicht in Phase II; viele Wiederholungen, und zwar mit Korrekturen erst in Phase III!). Nun versuchen wieder andere Chorleiter, gerade mit der Methode des Laufenlassens Erfolge zu erzielen. Sie hoffen, daß „die Sache allmählich von selbst besser wird“. Das geschieht in der Tat: Die Irrtümer einzelner Chorsänger verschwinden allmählich. Weiter führt der Weg dann allerdings nicht mehr. Das trainingsartige Wiederholen des Anfänglichen führt nicht automatisch zur Perfektion, sondern zur Festlegung des Halben.

Daher hüte man sich vor Wiederholungstraining in Phase 2.


Methoden von Phase 2

In Phase II kann alles eingebracht werden, was ohne ausführliche Hinweise und Übungen ausführbar ist:
- Bewegungsart (Dirigieren, Andeuten beim Tonangeben)
- dynamische Verhältnisse im Groben (fp), dynamische Vorgänge im Groben (crescendo, decrescendo), wodurch Verständnis für den Phrasenverlauf geweckt werden soll.
Durch überlegte Folge der geübten Stellen wird der Aufbau verdeutlicht ( Abschnitte,Beziehungen,Kontraste, Varianten, Wiederholungen usw.) entweder: durch Nebeneinanderüben verschiedener Stellen, oder: durch Hinweis beim Eintritt in einen wiederholten,variierenden oder kontrastierenden Abschnitt.
- An technischen und gestalterischen Einzelheiten kann alles verwendet werden, was dem Chor aus anderen Werken vertraut ist.

Typisch für die zweite Probenphase ist das sehr flüssige Arbeit durch:
- geschickte Wahl der Übungseinheiten
- Vorbereitung und Führung der Übungseinheiten
- geschicktes Zusammenfügen der Übungseinheiten
- überlegtes Verhalten des Chorleiters.

Die Arbeit in der Phase II folgt der Satzstruktur:
polyphone Struktur: — stimmenweise zusammensetzen
akkordische Struktur: - vollklanglich, gegebenenfalls durch Klavier auffüllen
(Die spätere Arbeit in der Phase III kann auch gegen die Satzstruktur erfolgen.)

Keine Stimme soll länger als zwei oder drei Durchgänge untätig bleiben.
Unter Umständen eine Stimme von einer anderen Chorstimme mitsingen lassen, jedoch nie ohne erkennbaren Zweck, wie z.B. „Stichnoten“, Hauptmelodie, Harmonie-Fundament (meist Unterstimme); aber auch: Komplementärrhythmen, stark dissonierende oder tonal fremde Parallelstimmen.

Regel: Der Chorsänger hört nur, was er einmal gesungen hat.

Also nicht: zuerst Sopran allein, dann Alt, dann Tenor, dann Bass, schließlich alle zusammen. Diese verbreitete Methode ist nichts anderes als ein Ausdruck probentechnischer Hilflosigkeit.
In der Chorarbeit geht es immer darum, das Nahziel ,,Erarbeiten eines Werkes“ mit dem Fernziel ,,Aufbau und Erziehung des Chores“ zu verbinden. Jeder Schritt auf das Werk zu sollte gleichzeitig ein Gewinn für den Sänger und seine Fähigkeiten sein.
In diesem Sinne ist die Methode ,,S, A, T, B, alle“ nicht nur nutzlos, sondern geradezu schädlich. Sie bleibt für die Chorerziehung nicht nur unergiebig, sondern sie behindert sie, wirkt ihr entgegen, baut sie ab.

Alle Chorerziehung zielt auf ein immer bewussteres Zusammensingen ab. Während es beim Orchesterspiel nur noch um ein musikalisches Einswerden geht, beginnt für den Chor die Gemeinschaftsaktion schon beim Finden der Töne. Der Chorsänger soll lernen, im Klang der anderen Stimmen nicht Störung, sondern Stütze zu finden. Er singt ja weithin nach Vermutung (auch der „Blattsänger“ singt so, und zwar gerade der routinierte!), er sucht die jeweils wahrscheinlichste Folge. Am wahrscheinlichsten ist diejenige, die zur anderen Stimme, das heißt zur laufenden Harmoniebewegung paßt. Falsch soll für ihn nicht ein Terzsprung statt einer Quinte sein, sondern ein Schritt, der mit dem umgebenden Klang kollidiert. Erst auf diesem Wege wird es später möglich, auch ,,Dissonanzen“ und dissonante Kontrapunktik verstehend wiederzugeben und dabei die Sekundklänge nicht mehr als „Nicht-klingen“, sondern als ganzheitlich erfassten, reizvollen Klang genussvoll zu erleben.

Auch (und gerade) der Rhythmus soll allmählich als ein mehrschichtiges, also eigentlich mehrstimmiges Ereignis, als ein Ineinandergreifen von verschiedenen Notenwerten verstanden werden, nicht mehr als einstimmige Folge wechselnder Längen. Daher ist es so wichtig, gerade im Frühstadium der Einstudierung, in Phase II, ebenso wie im Frühstadium der Chorerziehungsarbeit den Chorsänger vorwiegend im Verband, sei es auch nur im geringstimmigen, singen zu lassen. Zwar findet die eigentliche Gehörschulung vor allem in der Phase III statt (siehe unten), doch werden in der Phase II die Weichen gestellt, die das Spätere möglich machen oder auch verhindern können.

Gerade während der ersten tastenden Schritte formt sich unbewußt der Denkakt „Wie finde ich meinen Tonschritt?“ Statt blind ins Leere zu gehen, soll jeder Schritt ein Bewusstsein von (spannender) Ausgangs- und Zielharmonie enthalten, ebenso wie ein Gefühl für das schwingende Ineinander von Ganzen, Halben, Vierteln, Achteln.



Aufgabe


Bitte stellen Sie sich vor, Sie möchten das "Credo" der Missa solemnis in Phase 2 nach den obigen Angaben proben.
- Beschreiben Sie bitte - so ausführlich wie nötig, um das gesamte Credo abzudecken - wie Sie dabei konkret vorgehen.
- Schätzen Sie den Zeitaufwand (in Minuten), den Sie für die Phase 2 am Credo benötigen werden, ab.
- Überlegen Sie sich hochrechnend, wie lange wohl folglich der Zeitaufwand für Phase 2 für die gesamte Messe wäre.

Bitte schicken Sie Ihr Ergebnis bis spätestens 11.5.2020 an professor_herrmann@me.com

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