Prof. Andreas Herrmann

Vocal Productions


—> Zu Kapitel 1


Im Wintersemester hatten wir gelernt, dass die Chorarbeit in verschiedenen Phasen verläuft.

Jede Phase hat dabei ihr Arbeitsziel (Teilziel), ihre Erfolgsgrenze, ihre typischen Arbeitsmethoden.

Wir hatten vier Phasen unterschieden
I Erahnen
II Erlernen
III Verstehen
IV Anwenden

Lassen Sie uns detaillierter als bisher vorgehen und folgende Überlegungen auf unser in Kapitel 1 gewähltes Stück anwenden.
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Zunächst noch etwas theoretischer Background:

ALLGEMEIN
zu Arbeitsziel und Erfolgsgrenze:

Eines der wichtigsten Mittel chorleiterischer Technik besteht darin, in jedem Augenblick der Arbeit bewußt nur Teilziele mit genau begrenztem Erfolgsanspruch zu verfolgen. Unklarheiten und Irrtümer in der Frage, was in jedem Augenblick der Arbeit erreicht werden kann und erreicht werden soll, sind die Ursachen für manches Misslingen und manches Unbehagen.

Mancher Chorleiter, der mit einer fertigen Vorstellung in die Probe kommt, erlebt die ersten Klänge aus dem Chor als ein ernüchterndes Chaos. Er macht sich daran, den Sängern schrittweise die falschen Töne auszutreiben. Fortschritte wechseln ab mit Stadien der Erschöpfung und Entmutigung bei Chor und Leiter. Schließlich bleibt das Ergebnis weit hinter dem Erhofften zurück. Wo lag der Fehler?

Da gibt es gleich mehrere:
- Der Chorleiter wird immer dann aktiv, wenn etwas misslingt, im Mittelpunkt der Arbeit steht also der Fehler.
- Die Probe ist eine Folge von Versuchen, von Tests, ob „es schon geht“.
- Der Chorsänger wird dann in die Rolle eines ständig versagenden Prüflings gedrängt.
- Kritik und Anweisung des Chorleiters orientieren sich von Anfang an am angestrebten Endergebnis. Solange dieses nicht erreicht ist (also während der gesamten Probenzeit!), ist alles „schlecht“.
- Relative Zwischenerfolge werden entweder gar nicht wahrgenommen oder lassen unbefriedigt. Lobsprüche wirken „pädagogisch“ und damit abwertend.
- Die ständige Gegenwart der Vorstellung „falsch“ erweckt die unfruchtbare, ja unkünstlerische Gegenvorstellung, das Arbeitsziel sei „das Richtige“, mag man es nun verstehen als ein ganz genau wiederholtes Erfüllen von Komponisten- und Chorleiteranweisungen oder sogar als die eine, allein angemessene Art der Darstellung dieses Werkes. In beiden Fällen verlangt man Unmögliches. Musik läßt sich nicht ganz genau wiederholen, selbst eine gelungene Wiederholung büßt an Leben ein; zu jeder Darstellungsart lassen sich gleich gute, ja bessere Lösungen finden.

Solche Vorstellungen erzeugen leicht ein unterschwelliges Gefühl von ständigem Misslingen und machen durch ihr Leistungs- und Erfüllungsdenken den Chor und seinen Leiter zu Dauerverlierern.

Je nach Veranlagung wird der Chorleiter die Schuld bei sich selbst („keine Begabung“, „keine Kontaktfähigkeit“) oder bei seinem Chor suchen („zu schlechte Leute“). Der Chorsänger empfindet eine solche Einstellung sehr wohl und leidet unter ihr. An dieser Stelle will die Probentechnik den Chorleiter ermutigen. Er soll nicht Klage führen über ein grundsätzliches Versagen, sondern seine Kommunikation verbessern, die Leute genau da abholen, wo sie sich befinden und Irrtümer in seiner Einstellung und seinen Maßnahmen suchen.


zur Grundeinstellung der Beteiligten:

Die Chorprobe ist nicht: Abbau von Fehlern,
sondern: Aufbau des Werkes

der Chorleiter ist nicht: Tester auf Fehler hin,
sondern: Vermittler des Werkes

der Arbeitsbeginn ist nicht: ein Gestrüpp von Irrtümern,
sondern: ein noch leerer Vorstellungsraum

das Ziel der Arbeit ist nicht: Beherrschung,
sondern: Aneignung des Werkes


zu den möglichen Maßnahmen:

Das Werk wird in Lernschichten und Lernportionen aufgeteilt. Es wird jeweils ein begrenztes Ziel angesteuert.

Die einzelnen Arbeitsschritte sind Informationen. Sie werden so ausgewählt, daß der Chor sie sofort auffassen kann. Mit Anweisungen und Kritik hält sich der Chorleiter genau innerhalb des Rahmens des jeweils schon Möglichen.

Ergebnis:
Das klare Bewusstsein von der Beschränkung auf das jeweils Mögliche beseitigt die Atmosphäre ständiger Unzufriedenheit. Der Chor erlebt die Bewältigung vorläufiger Ziele als Erfolg, den verbleibenden Rest nicht als bedrückende Unvollkommenheit, sondern als eine die Erwartung steigernde Unvollständigkeit.


zu den Begriffen „Musikalische“ und „Technische“ Arbeit

Die musikalische Arbeit umgibt die technische Arbeit als stets gegenwärtige Grundvorstellung und als vorausgeahntes Arbeitsziel.

Sie selbst hat etwa folgenden Ablauf:
Phase I - Erahnen: Es wird versucht, das Charakteristische des Werks in einer kurzen Kontaktnahme darzustellen und zu erleben.
Phase II - Erlernen: Die einfachen Zusammenhänge und Beziehungen (Phrasen,Bögen,Kontraste) werden erforscht, aber nicht dargestellt.
Phase III - Verstehen: Einzelvorgänge werden statisch unter die Lupe genommen, ihre technische Ausführung ausprobiert. Sie werden in fließende Musik zurückverwandelt, erhalten nach und nach Bewegung und allgemeinen Ausdruck.
Phase IV - Anwenden: Mit dem Einbau in die schon vertrauten Zusammenhänge erhalten sie ihre charakteristische Bewegung, ihre charakteristische Farbe, ihren charakteristischen Ausdruck, der von Phase I her erahnt wurde.



PHASE 1 - ERAHNEN

zum Arbeitsziel in Phase 1

Hat ein Chor z.B. viel Bach gesungen, so ist der erste Einstieg in eine neue Kantate problemlos. Der Chorsänger freut sich, im gewohnten Idiom neue Formulierungen kennenzulemen; bei Schwierigkeiten hilft die Erinnerung an ähnliche Wendungen. Man kennt die typischen Akkorde, weiß, wohin eine Harmonie üblicherweise steuert, hat den rhythmischen Pulsschlag des neuen Werkes schon im Gefühl, noch ehe man seine Noten kennt.

Ganz anders, wenn nach einer Serie von Bachkantaten eine Palestrina-Motette vorgelegt wird. Der Chor bewegt sich unsicher, Fehler häufen sich, es entstehen weder Fluß noch Zusammenklang; und das alles, obwohl die Palestrina-Motette in Linie und Klanglichkeit beträchtlich leichter ist als das Bach’sche Werk. Aber die innere Logik, auch der besondere Reiz des anderen Stils sind noch verborgen; und so blieben selbst die bloßen Noten schwierig. Erst wenn der Chor gelernt hat, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, geht die Arbeit wieder flüssiger voran.

Es ist Aufgabe der ersten Probenphase, ein solch blindes Umhertappen zu verhindern. Es gilt, einen Kontakt herzustellen, mit wenigen probentechnischen Handgriffen eine allgemeine Grundvorstellung, einen Erlebnisrahmen zu schaffen, vergleichbar der pauschalen Erinnerung an schon gesungene Werke.


Methoden von Phase 1

Drei Grundmethoden stehen uns in jedem Fall zur zur Verfügung:
- Eine oder mehrere typische Stellen
- Thematisches Material
- Vorbereitende Übungen


Aufgabe


Bitte finden Sie zu dem von Ihnen in Kapitel 1 ausgewählten Chorwerks "Missa solemnis" von Ludwig van Beethoven:
- vier typische Stellen, die sich als Einstieg in eine Übungseinheit eignen würden
- Untersuchen Sie, ob thematisches Material vorhanden ist, dass sich als Einstieg in Übungseinheiten empfehlen würde. Dies ist nicht immer und bei jedem Werk oder Abschnitt eines Werkes der Fall (bei Fugen zB eher als bei „Klang“-Stellen) - versuchen Sie, wenigstens zwei gut geeignete Beispiele zu finden.
- Manche Schwierigkeiten erfordern vorbereitende Übungen. Benennen Sie konkret schwere Stellen in dem von Ihnen gewählten Werk, bei denen eine solche Vorbereitung sinnvoll sein könnte und beschreiben Sie - möglichst an drei unterschiedlichen Stellen - wie so eine vorbereitende Übung aussehen könnte.

Bitte schicken Sie Ihr Ergebnis bis spätestens 4.5.2020 an professor_herrmann@me.com


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