Prof. Andreas Herrmann

Vocal Productions


Rodion Shchedrin: The Enchanted Wanderer



Oper für drei Solostimmen, Chor und Orchester

Inhaltsangabe:
Die Hauptperson Ivan blickt auf ein ereignisreiches und abenteuerliches Leben zurück. Nachdem er als junger Mann einen Mönch getötet hatte, wurde Ivan von dessen Geist verflucht. In seinem qualvollen Leben sollen stets Tod und Heimsuchung auf ihn warten. Ivans Schicksal nimmt seinen Lauf und nach einer Gefangenschaft bei den Tataren und Militärdienst wird er Diener eines Prinzen, dessen Reichtümer er verwaltet. Jedoch verliebt sich Ivan in die Tänzerin Grusha und gibt das ihm anvertraute Geld für sie aus. Als der Prinz dahinter kommt, verlieben sich dieser und Gruhsa prompt ineinander. Ivan bleibt jedoch mit gebrochenen Herzen zurück. Als der Prinz die Lust an ihr verliert, sucht er sich kurzer Hand eine neue, sehr reiche Braut. In ihrer Verzweiflung flieht Grusha zu hohen Flussklippen, wo sie auf Ivan trifft. Sie bittet ihn darum, sie umzubringen, da sie sich sonst gezwungen sieht, den Prinzen und seine neue Braut zu töten. Als Liebesbeweis stürzt Ivan Grusha die Klippen hinunter und geht ins Kloster, um für seine Sünden zu büßen.

Auftragswerk :
Commissioned by the New York Philharmonic

Inhalt:
Teil 1:
I Prologue
II The Flogged Monk (The Portent)
III Tatar Captivity - IV Ivan's Plea (Aria [Bass] with Chorus)
V Russian Shepherds (Orchestral Interlude I)
VI Ivan's Tale (Recitative)
VII Duet (Tenor, Bass
The Magnetizer and Ivan)
VIII Drunken Night (Orchestral Interlude II)
IX Grusha the Gipsy

Teil 2:
X Recitative-Dialogue (Ivan, The Prince and Chorus)
XI Duet and Recitativo (Mezzo-Soprano, Tenor - Grusha and The Prince)
XII The Prince's Engagement to a Wealthy Bride and Monologue of Ivan
XIII Ships on the Volga (Orchestral Interlude III)
XIV Final Duet and Scene (Grusha, Ivan)
XV Laments (Orchestral Postlude)
XVI Epilogue

Entstehung:
2001-2002

Besetzung:
2 (auch Altfl. u. Picc.) · 2 Blfl. · 2 (2. auch Engl. Hr.) · 2 (2. auch Bassklar.) · 2 (2. auch Kfg.) - 2 · 2 · 2 · 2 - P. S. (I: 10 Cup Bells · kl. Tr. · hg. Crot. · Choclo · Guiro; II: Röhrengl. · Sonagli [Troika] · Whistle · Tamb. · Choclo · 4 Bong. · Guiro; III: Sonagli · Cup Bell · hg. Beck. · Hi-Hat · 3 Gongs · Tamb. · kl. Tr. · Clav. · Wind Chimes · Boat hooter · Marimba; IV: Tamt · Glass Chimes · gr. Tr. · Mar. · Boat hooter; V: 3 Gongs · gr. Tr. · Boat hooter · Sega · Whistle · Donnerblech) (5 Spieler) - Balalaika · Gusli · Hfe. · Klav. (auch Cel. u. Cemb.) - Str. - Solo Tenor - Solo Bass - Solo Mezzo - Chor

Dauer:
85 Minuten

Uraufführung :
19. Dezember 2002 New York, NY, Lincoln Center, Avery Fisher Hall (USA) · Lilli Paasikivi, mezzo soprano; Evgeny Akimov, tenor; Ain Anger, bass · Dirigent: Lorin Maazel · New York Philharmonic · New York Choral Artists · Choreinstudierung: Joseph Flummerfelt (szenische Aufführung)

Verlag:
Schott Music (Lieferrechte für alle Länder außer Russland)

Noten:
- ein Preview-pdf in geringer Auflösung erhalten Sie hier kostenlos
- eine Download-Edition ist bei Schott für 46,99 € erhältlich

Hintergrund:

Rodion Konstantinowitsch Schtschedrin schrieb The Enchanted Wanderer im Jahr 2002 zu einem Libretto» das auf der Erzählung „Der verzauberte Wanderer“ des russischen Autors Nikolai Leskow
aus dem 19. Jahrhundert beruht. Sie ist Schtschedrins vierte Opernkomposition und meines Wissens ein absolutes Novum» nämlich eine „Konzertoper“ (damals in der Geschichte der modernen Musik unbekannt abgesehen von einigen Mono-Opern» also Opern für einen einzigen Mitwirkenden).

Schtschedrin schrieb seit vielen Jahren vorwiegend Auftragsarbeiten (wie es auch im Barock gang und gebe war), und „The Enchanted Wanderer“ bildete keine Ausnahme. Sie wurde vom Dirigenten Lorin Maazel für das New York Philharmonie Orchestra in Auftrag gegeben, das die Oper am 17. Dezember 2002 unter Maazel in der Avery Fisher Hall in New York auch aus der Taufe hob. Die Solisten waren Lilli Paasikivi, Jewgeni Akimow und Ain Anger. Hätte es für Schtschedrin, der am Tag vor der Premiere seinen siebzigsten Geburtstag feierte, wurde, ein schönes Geschenk geben können? Und natürlich hatte er die Partitur Maazel zugeeignet.

Als der Dirigent den russischen Komponisten das Werk zu schreiben bat, hatte er „etwas Russisches mit alten Gesängen, Glockengeläut, Polowetzern, Zigeunern und einer volltönenden Stimme“ im Sinn (wie Maazel Schtschedrin erläuterte). Das entsprach den herkömmlichen Erwartungen an eine „russische“ Komposition, und natürlich zählte Maazel darauf, dass Schtschedrin sie mit der ihm eigenen Originalität umsetzte. In der Tat entstand ein Werk von unglaublicher Frische, Kraft und Tiefe, das dennoch alle verlangten „russischen Elemente“ aufweist. Nur die Polowetzer fehlen, sind aber durch Tataren ersetzt Bei der ersten öffentlichen Aufführung in Russland - am 10. Juli 2007 mit Waleri Gergiew als Dirigent und Orchester, Chor und Solisten des Mariinski-Theaters - und auch bei der Premiere von Alexej Stepanjuks Bühnenversion am 26. Juli ebenfalls in St. Petersburg mit Gergiew am Pult waren die Zuhörer, Landsleute des Komponisten und langjährige Bewunderer seines Genies, beeindruckt von der außerordentlich russischen Schönheit und Spiritualität der Musik

Libretto:
Die Erzählung Leskows enthält bereits viel „Russisches , und wie Schtschedrin sagte, hatte sie ihn schon seit Jahren beschäftigt. Doch alles hat seine Zeit, und offenbar war der Komponist erst bereit, die Thematik und den Text in Musik umzusetzen, als er auf die Siebzig zuging.

Leskows Stoff befasst sich mit den größten Themen des russischen Lebens überhaupt: Wallfahrt, selbstlose Liebe, die Verbindung des Aufrechten und des Sündigen in einer Person. Wird diese Mischung noch um den Schatten des Teuflischen erweitert (in der Gestalt von Leskows Magnetiseur) und um Zigeunerverse als Ausdruck von Freiheit, entsteht ein dichtes Bild des russischen Lebens und der russischen Seele, wie sie noch heute den Alltag in Russland ausmachen.

Leskows Erzählung ist bestrickend in ihrer Fülle, ihrer Originalität und Unübersetzbarkeit. Diese Unübersetzbarkeit zeigt sich bereits im Titel der Erzählung und der Oper: Otscharowannji strannik. Dahls großes Wörterbuch der russischen Sprache kennt dreizehn Bedeutungen für das Verb ocharowat’ unter anderem „bezaubern“, „beschwören“ und „einen Schatten werfen, verdüstern“. Wie sollen wir das Wort hier also verstehen? Allerdings vermitteln die vielen Definitionen zumindest eine Ahnung, in welche Richtung unsere Deutung gehen soll. Der Librettist stand vor einer ungemein schwierigen Aufgabe, denn in Leskows Werk verliert sich der Faden der Erzählung häufig im dichten Gewebe der Wörter.

Schtschedrin schrieb die Libretti zu seinen Opern selbst (zumindest ab Die toten Seelen), und das mit großem Geschick - wie alles in seinem Leben als Künstler. Doch wie Musikwissenschaftler betonen, übertraf er sich bei diesem Libretto selbst. Es gelang ihm, Leskows 137-seitige Erzählung mit ihrer Thematik und sogar ihren wichtigsten Verbnuancen und -färben in aphoristischer Klarheit auf acht Seiten zusammenzufassen.

Struktur und Sprache:
Die 90-minütige Oper hat einen durchstrukturierten Aufbau, der in keiner Weise beeinträchtigt wird vom Oratorium und der Passion (bei denen Chor und Erzähler eine wesentliche Rolle spielen), die sie enthält. Ganz im Gegenteil, sie erst verleihen dem Aufbau seine Stabilität. Insgesamt gibt es drei umfangreiche dramatische Abschnitte und zwei große Teile (7 und 9): Hier entfaltet sich das Hauptthema - vom Erscheinen der Zigeunerin Gruscha bis zu ihrem Tod -, hier wird die Lebensgeschichte des verzauberten Wanderers Iwan Sewerjanowitsch Flijagin erzählt. Der dritte Teil ist der Epilog. Schtschedrin gestaltet die Form nicht als lockeren Verband» sondern als sich schließenden Kreis: Die zwei abschließenden Teile greifen die Stimmung und die semantischen Motive der ersten Teile wieder auf» wobei der Männerchor mit Gott der Herr ist uns erschienen die Handlung einrahmt.

Der Epilog versöhnt musikalisch alle Charaktere und Themen und symbolisiert damit Vergebung. Das schlägt sich auch in der Stimmung des Publikums nieder. Gegen Ende der Oper erreicht Schtschedrin eine Dichte der Klangsymbole (Männerstimmen, Glocken), die der semantischen und klanglichen Dichte des Russischen in Leskows Erzählung nicht nachsteht. Dennoch wirkt die Musik noch tiefgründiger als die Worte - selbst als die magische Prosa Leskows! -, denn gemeinhin spricht Musik emotionale Ebenen an» die das geschriebene Wort nicht erreichen kann.

Die Leitmotive, so wenige es sind, verleihen dem Aufbau Zusammenhalt und überhöhen den Inhalt» und praktisch alle verweisen auf die spirituelle Ebene. So betont das Motiv Gott der Herr ist uns erschienen die Erlösung - in diesem Fall für Iwan und den Mönch. Das Wichtigste ist allerdings vielleicht die Wucht des verzauberten Wanderers» dessen mächtige Präsenz durch Choralklänge gestützt wird. Wie im antiken Drama übernimmt der Chor die Aufgabe des Kommentators; er bestimmt den Erzählton (in jeder Hinsicht), und letztlich sind es seine Teile» die die Grundausrichtung der Oper auf Gebet und Buße verdeutlichen.

Schtschedrin verblüfft insbesondere durch seinen meisterlichen Umgang mit dem Orchester, und er fügte mehrere sinfonische Episoden ein, etwa die „russischen Hirten“ (mit Solo-Holzbläsern) und das Postludium „Klage“ (mit dem gesamten Orchester). Der einfallsreiche Einsatz der Orchester- und Chorpalette für die „Gefangenschaft der Tataren“ ist hinreißend und bedient die Tradition des Orientalischen in der russischen Musik.

Eindrücke:
Nachdem bei der Uraufführung in St. Petersburg der Schlussakkord verklungen war, herrschte im riesigen Konzertsaal des Mariinski- Theaters eine ganze Weile Stille. Aber dann brandete der Beifall auf, dreißig Minuten fand der Applaus kein Ende. Wir hatten soeben ein Meisterwerk eines der größten zeitgenössischen russischen Komponisten gehört. Unser kollektives Gedächtnis, das kulturelle Gedächtnis, das uns allen innewohnt, war angesprochen worden, unsere kollektive russische Seele nahm das leise Läuten der Glocken auf, denn in unserer spirituellen Kultur verweist Glockengeläut stets auf Erleuchtung. Niemand blieb unberührt von der ausklingenden Ruhe der abschließenden Takte, von der Versunkenheit der Choräle. Als Gruscha die Zigeunerin „Keine Dämmerung“ sang, sprach sie direkt zu unseren emotionalen Wurzeln, verborgene Symbole wurden zu Leben erweckt: die vertrauten, fast genetisch in uns verankerten Frauentypen der russischen Literatur (Gruschenka in Dostojewskis Die Brüder Karamasow, Mascha in Tolstois Der lebende Leichnam) und alle Zigeunerassoziationen der russischen Kultur und Tradition. Mit dem Magnetiseur (dem Vorläufer von Karamasows Teufel) und dem Fürsten („eine Geldheirat“) wurde das Publikum zu einem Stelldichein mit der russischen Literatur gebeten, all das gefasst in gekonnter musikalischer Facettierung und eingebettet in einer Komposition, die durch ihre Natürlichkeit und Kunstfertigkeit besticht.

Bedeutung:
Schtschedrin hatte eine neue kreative Richtung entdeckt, die zu erkunden sich lohnte. Vierzehn Jahre vor „The Enchanted Wanderer“ hatte er Chormusik beruhend auf Leskows „Der versiegelte Engel“ geschrieben, doch in der Oper ist der Horizont weiter, die Energie der Erfahrung ohnegleichen. Ich bin überzeugt, dass Schtschedrins Fähigkeiten in der Chorarbeit (die er an der Moskauer Chorschule erlernte) eine Schlüsselrolle dabei zukommt, von Bedeutung ist sicherlich aber auch seine Herkunft (sein Großvater war ein Dorfpriester). Aus welchen Gründen auch immer, Schtschedrin setzte seine Wallfahrt ins spirituelle Russland und damit zwangsläufig in die russische Religionsgeschichte fort. „The Enchanted Wanderer“ entstand nach einer ganzen Reihe von instrumentalen Auftragskompositionen, darauf folgte die Choroper „Bojarin Morosowa“ (2006), eine nicht überraschende und sehr russische Nachfolgerin des „Enchanted Wanderer“, in der Schtschedrin wieder historische Wechselfälle mit den Motiven des Glaubens verwebt.

Der Dichter Leskow:
Wieder einmal wurde Leskow durch Schtschedrin auf die Opernbühnen Russlands und der Welt gebracht. Auch der junge Schostakowitsch ließ sich von dessen Werk inspirieren und schuf danach seine Lady Macbeth von Mzensk mit ihrer bisweilen etwas grausamen Erotik. Der Leskow des Wanderers vermittelt hingegen Güte und Demut Ein anderer Leskow fur einen anderen Komponisten. Auch die „russische“ Oper - die Oper, die sich der Menschlichkeit, der Moral und dem Glauben verschreibt - erlebt eine Rückkehr auf die Bühne. Natürlich hält „The Enchanted Wanderer“ viel anderes Neuartiges bereit, angefangen mit dem Genre selbst: Es gibt so gut wie kein Stereotyp. Schtschedrins Oper ist eine großartige, lang erwartete Drehung in der Entwicklungsspirale der Musik. Junge Komponisten können schreiben, was ihnen beliebt, aber der 70-jährige Meister gestattet uns, uns an der „ewigen Rückkehr“ in der russischen Musik zu freuen, an der ewigen Rückkehr großer russischer Kultur - in dem Moment, in dem nichts notwendiger ist als eben das.


Aufgabe

Bitte lesen Sie für weitere Hintergrundinfos das entsprechende Programmheft der Münchner Philharmoniker (Dezember 2017)