Prof. Andreas Herrmann

Vocal Productions


Johannes Brahms


weltliche Werke für Chor und Orchester Alt-Rhapsodie (op.53), Schicksalslied (op. 54) und Nänie (op. 82)




Johannes Brahms wurde 1833 in Hamburg als zweites Kind der Eheleute Johann Jakob und Johanna Henrika Christiane Brahms geboren. Dass Brahms’ Vater ein zunächst „freischaffender“ Musiker in diversen Tanzmusik-Ensembles, und später Angestellter im Orchester des Stadttheaters Hamburgs war, legt einen frühen Bezug zur Musik nahe. Neben Klavier- und Cellounterricht, zeigte sich Brahms’s Talent zum Komponieren früh. Später erlernte er das Hornspiel und das Dirigieren.
In sein Gesamtwerk reiht sich neben Orchesterwerken, Klavier- und Kammermusik, weltlicher und geistlicher Chormusik auch weltliche Chorsinfonik. Drei dieser Werke werden nachfolgend etwas erläutert.

„RHAPSODIE“ FÜR EINE ALTSTIMME, MÄNNERCHOR UND ORCHESTER (1870)
Die Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester entstand 1869 und wurde 1870 in Jena uraufgeführt. Vermutlich verarbeitete Brahms damit eine enttäuschte Liebe zu Clara Schumanns Tochter Julie. Der düstere Text stammt aus der Hymne „Harzreise im Winter“ von Johann Wolfgang von Goethe (Strophen 5-7).

Text
Aber abseits wer ists?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.

Ach wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank,
Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ungnügender Selbstsucht.

Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden In der Wüste.


Musik
Wie die Textgrundlage vorgibt, komponiert Brahms ein dreiteiliges Werk. Eine Orchestereinleitung (Adagio) stimmt harmonisch in die Düsterheit des Textes ein. Trotz der nicht allzu üppigen Besetzung (2 Fl, 2 Ob, 2 Kl, 2 Fg, 2 Hn, 2 Vl, Vla, Vlc, Kb) tut sich ein massiver Klangraum auf. Der erste Höreindruck lässt die Ausgangstonart c-moll nur schwer erahnen.
Nach einer Fermate in Takt 18 eröffnet die Alt Solistin mit den Worten „Aber abseits wer ists?“ ohne Orchesterbegleitung die Gesangspartie. Diese ist durchwegs gekennzeichnet durch extremen Ambitus, sowie einen teils sehr sprunghaften Melodieverlauf. Hauptsächlich lange Notenwerte (1/4+) im legato verleihen diesem ersten Teil seine Schwere.
Die zweite Strophe beginnt, wieder nach einer Fermate, im 6/4-Takt. Brahms spielt aber, wie so oft, mit unterschiedlicher metrischer Aufteilung (6/4 vs. 3/2) und setzt diese oftmals gleichzeitig in verschiedene Instrumentengruppen. Die dadurch entstehenden Polyrhythmiken lassen den Orchesterapparat gelungen verwaschen klingen (-> kein Halt zu spüren -> Textausdeutung).
In der dritten Strophe kommt der vierstimmige Männerchor hinzu. Brahms hat doch recht viel für Männerchor komponiert, deshalb überrascht die Auswahl dieser Besetzung nicht all zu sehr. Dennoch gelingt ihm, nicht zuletzt durch die Wendung nach C-Dur, ein prächtiger Farbwechsel im Vergleich zum Vergangenen. Choralartig untermalt der Männerchor die Altpartie - ohne sich jedoch in den Vordergrund zu drängen. Die Harmonik wird weniger Dissonant, die Rhythmik klarer. Es wirkt strukturierter, ja, nahezu erlösend. Das Werk wird mit dem Text „... sein Herz“ elegisch mit einer simplen F-Dur -> C-Dur Wendung abgeschlossen, als seien alle Sorgen und Ängste vergessen.

Hörtip
https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/starkes-stueck-brahms-alt- rhapsodie-100.html

Aufnahme (youtube)
Nathalie Stutzmann (Alt), Monteverdi Choir, Orchestre Révolutionnaire et Romantique Sir John Eliot Gardiner
https://www.youtube.com/watch?v=4X1LrAZpYbQ

Partitur (imslp)
Noten Alt-Rhapsodie


„SCHICKSALSLIED“ FÜR CHOR UND ORCHESTER (1871)
Berührt und bewegt durch die Texte des Dichters Friedrich Hölderlin begann Brahms bei einem Ausflug mit Freunden nach Wilhelmshaven mit den ersten Skizzen seines Schicksalslied für Chor und Orchester. Die Textgrundlage liefert Hölderlins Gedicht Hyperions Schicksalslied, das den Dualismus zwischen der heiteren Götterwelt (Strophe 1, 2) und dem wehrlosen irdischen Dasein des Menschen beschreibt (Strophe 3).

Text
Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende Säugling,
atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.


Musik
Brahms löst die Dreiteiligkeit der Textvorlage auf. Er nimmt die ersten beiden Strophen zusammen, und komponiert die dritte Strophe aufregend neu, sodass sich beide Teile antithetisch gegenüberstehen, um dem Dualismus des Textes gerecht zu werden. Eingerahmt wird diese Struktur von je einem Orchstervor- und nachspiel.
Das in Es-Dur stehende Werk beginnt mit einer Orchestereinleitung. Streicher mit Holz bestimmen deren Klangfarbe. Das Pauken Ostinato erinnert eher an einen Trauermarsch, wobei dies bereits, im Kontrast zu den elegischen Klängen und langanhaltenden Akkorden, die nachfolgende Tragik des Textes vorausahnen lässt.
Die Altstimmen beginnen, begleitet von hoch gesetztem Holz, in der ersten Strophe die seligen Genien zu besingen. Beim danach folgenden choralartig homophonen Chor besticht die Textausdeutung (bsp. „heilige Saiten“ -> Arpeggi in Streicher). Hier kommen erstmals diskret Blech (Trp., Psn.) hinzu. Die Dynamik beschränkt sich bis auf einen kurzen Ausbruch gegen Ende im sphärischen piano. Bemerkenswert in der zweiten Strophe sind die beiden kurzen acapella Chorstellen. Unter anderem dadurch, sowie der ausdünnenden Orchestrierung schafft es Brahms, zu einem Nullpunkt zurückzukehren, um den folgenden zweiten Teil noch dramatischer wirken zu lassen.
Nach einer deutlichen Zäsur beginnt der zweite Teil im aufbrausenden 3/4 Takt, nun in der Paralleltonart c-moll. Auf- und abfallenden Tremoli in den Streichern dominieren das Klangbild. Scharfe dissonante Bläser Akzente (v.a. Blech) unterstreichen die Dramatik. Der Chor, ebenfalls unisono, zeichnet durch sprunghafte Melodik die Vehemenz der nun irdisch-perspektivischen Aussage „Doch uns ist gegeben, in keiner Stätte zu ruhn.“ nach. Der ab Takt 146 verwendete Kreuzrhythmus steigert die Dramatik hin zu einem affektvollen Takt Generalpause. Der Text „ins ungewisse hinab“ wird musikalisch stark kontrastierend und ausgedeutet dargestellt. Nach einem Zwischenspiel, in dem Brahms dem Chor fugenartig das Thema des zweiten Teils überlässt, wird die dritte Strophe mit den selben, jedoch abgewandelten, musikalischen Mitteln wiederholt, um eine Symmetrie zu schaffen (Strophe 1+2 | Strophe 3 + 3).
Ein Orchesternachspiel in C-Dur beendet das Werk. Begonnen mit dominierendem Holz übernehmen die Streicher nach und nach die Führung. Ein kurzes Aufblitzen des Pauken Ostinatos der Einleitung könnte als Zeichen des nie endenden Dualismus zwischen himmlischen und irdischen Gegebenheiten gedeutet werden.

Aufnahme (youtube)
Monteverdi Choir, Orchestre Révolutionnaire et Romantique Sir John Eliot Gardiner
https://www.youtube.com/watch?v=wZiKpcEhSj0

Partitur (imslp)
Noten Schicksalslied



„NÄNIE“ FÜR CHOR UND ORCHESTER (1881)

Als Reaktion auf den Tod eines Freundes, dem Maler Anselm Feuerbach, begann Brahms 1880 mit der Vertonung von Schillers Nänie. Dieser Text, ein Klagegesang, behandelt zwar nicht den Tod eines konkreten Menschen, sondern zeigt vielmehr die Vergänglichkeit des Schönen im Allgemeinen auf. Das Heranziehen griechischer Mythologie, einem Sujet dem Feuerbach zugeneigt war, scheint unter Anderem ausschlaggebend für die Textauswahl Brahms’ zu sein. Nach der Fertigstellung 1881 widmete er das Werk Feuerbachs Stiefmutter Henriette Feuerbach.

Text
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.


Musik
Brahms gliedert das Werk in drei Teile. Der erste Teil behandelt die ersten vier Distichen des Textes, also das Klagen über den Tod des Schönen, illustriert an Beispielen aus der griechischen Mythologie. Das Werk beginnt mit einem 24-taktigen Orchestervorspiel in D-Dur im 6/4 Takt. Brahms mischt typischerweise Holz mit Horn. Die Streicher spielen eine eher hintergründige Rolle. Die Musik wirkt anmutig und hoffnungsvoll. Ähnlich wie in seinem Deutschen Requiem, das er zehn Jahre zuvor vollendete, stehen Trauer und Hoffnung in einer musikalischen Balance.
Die Sopranstimmen beginnen nachfolgend mit der Feststellung „Auch das Schöne muß sterben!“, wobei das Wort „sterben“ in einem zweieinhalb-taktigen Melisma ausgedeutet wird. Fugenartig treten die anderen Stimmen dazu. Hier wird Brahms’ Bezug zur „alten Musik“ und „alten Formen“ wieder einmal deutlich. In Takt 41 wird dem Chor eine homophone acapella Rolle zuteil. Brahms nutzt das als Mittel, um die Dringlichkeit des Textes zu skizzieren. Das zweite Distichon beginnt ab Takt 47 wieder fugenartig mit dem Bass und mündet in Takt 60 erneut im homophonen acapella Satz. Zu Beginn des dritten Distichons ertönen erstmals die Harfen. Diese scheinen eine besonders wichtige Rolle einzunehmen da Brahms betont, dass es möglichst mehrere davon geben solle. Auch der Chorsatz verdichtet sich: Sopran und Alt sowie Tenor und Bass sind nun aneinander gekoppelt. Ab Takt 74 baut sich das erste Orchester- und Chortutti auf. Rhythmische Spielereien (z.B. unterschiedliche metrische Aufteilung des 6/4 Taktes) steigern die Intensität bis Takt 81 der Höhepunkt des ersten Abschnittes erreicht wird. Dabei wird beinahe unmerklich hin zur neuen Tonart Fis-Dur moduliert.
Der zweite Abschnitt beginnt im 4/4 Takt. Die aufsteigende Nymphe aus dem Meer wird durch ein Chor unisono skizziert. Die tutti-Orchestrierung wirkt hier sehr erhaben. Lediglich die Hörner wurden im gesamten Abschnitt bis auf zwei Takte ausgelassen. Dadurch, dass Brahms das sechste Distichon über die weinenden und klagenden Götter und Göttinen textlich wiederholt, wird diesem besonderer Ausdruck verliehen. Vor allem Seufzer Figuren machen dies deutlich. Langsam führt Brahms durch das Ausdünnen der Orchestrierung und Andeutungen der Ausgangstonart D-Dur vom „göttlich klagenden Ausflug“ zurück. Der Abschnitt endet mit der Aussage: „...daß das Schöne vergeht; dass das Vollkommne stirbt.“ - letzteres acapella.
Der dritte Abschnitt erinnert an den ersten: wieder im 6/4 Takt, wieder D-Dur. Auch die Motivik ist ähnlich bis gleich. Das Sopranthema, mit dem das siebte und letzte Distichon eingeleitet wird, zeigt große Gemeinsamkeiten mit dem allerersten Sopranthema. Nach fugenartiger Ausarbeitung endet das Distichon wie im ersten Teil in gewohnter Manier homophon und acapella. Brahms wiederholt jedoch den ersten Vers des letzten Distichons „Auch ein Klaglied zu sein ... ist herrlich“, um der Hoffnung und letztlich dem Wort „herrlich“ genug Bedeutung zu schenken.

Aufnahme (youtube)
Monteverdi Choir, Orchestre Révolutionnaire et Romantique Sir John Eliot Gardiner https://www.youtube.com/watch?v=06_XcWz5F58

Partitur (imslp)
Noten Nänie


Zusammenstellung: Moritz Külbs